Lesereise im Stöberhaus – Joachim Ringelnatz

Das Hexenkind
von Joachim Ringelnatz


Das junge Ding hieß Ilse Watt.
Sie ward im Waisenhaus erzogen.
Dort galt sie als verstockt, verlogen,
Weil sie kein Wort gesprochen hat,
Und weil man es ihr sehr verdachte,
Daß sie schon früh, wenn sie erwachte,
Ganz leise vor sich hin lachte.


Man nannte sie, weil ihr Betragen
So seltsam war, das Hexenkind.
Allüberall ward sie gescholten.
Doch wagt' es niemand, sie zu schlagen,
Denn sie war von Geburt her blind.


Die Ilse hat für frech gegolten,
Weil sie, wenn man zu Bett sie brachte,
Noch leise vor sich hin lachte.


In ihrem Bettchen blaß und matt
Lag sterbend eines Tags die kranke
Und stille, blinde Ilse Watt,
Lächelte wie aus andern Welten
Und sprach zu einer Angestellten,
Die ihr das Haar gestreichelt hat,
Ganz laut und glücklich noch: "Ich danke."

Joachim Ringelnatz.
Quelle: www.buechervielfalt.de

Am 24. April 2008 ließ sich die kleinkunstbrigade Anna Kram e.V. wieder einmal in der Bücherecke des Stöberhauses sehen. Michaela Jakob und Sid Eisengurrer haben sich durch das Werk von Joachim Ringelnatz, den „großen, kleinen, bis in den letzten Nervenstrich spinnwebfeinen, unübersetzbaren Mann” (Peter Rühmkorf, 1999), gelesen. Und was sie dabei entdeckten, haben sie in einem kleinen Programm zum Besten geben. Unterstützt wurden sie dabei mit Musik aus den Zwanzigern von Britt Hedrich auf der klassischen Gitarre.


Eine Stunde etwa brachten sie dem Publikum Kurzweil – ganz im Sinne des Dichters.